Wissenschaft und Technik machte gegen Ende des 19. Jh. gewaltige Fortschritte, sie veränderten Weltbild und Lebensstil.
Der Jugendstil ist eine europäische Stilbewegung, die vor allem Architektur und angewandte Kunst umfasst. Hauptmerkmale des Jugendstils sind vegetabile Formen, gekurvte Linien, die an Wellen, Flammen, Blumenranken oder wehende Haare erinnern, auch bewegte abstrakte Formen. Vor allem Ornamente dieser Art finden reiche Verwendung und die Ausgewogenheit von Flächen standen im Vordergrund.
Im ausgehenden 19. Jh. fanden in fast allen Ländern Europas Auseinandersetzungen zwischen den Traditionalisten des Historismus und den „Neuen“, den Unterstützer des Jugendstils statt.
Impulsgebend für den Jugendstil in Deutschland war die englische Arts-and-Crafts-Bewegung, ein Zusammenschluss von Künstlern, Malern und Architekten. Die Gruppe um William Morris und John Ruskin verstanden sich als Opposition zur industriell hergestellten Massenproduktion und Gebrauchsgegenständen. Sie forderten eine Abkehr vom ausschweifenden Historismus, eine Einbindung von Kunst und Industrie unter Berücksichtigung solider handwerklicher Qualitäten. Werke dieser „Schule von Glasgow“ gelangten über Wien nach Deutschland und zu dem belgischen Entwerfer Henry van de Velde.
Henry van de Velde (1863-1957) kam 1897 nach Deutschland. 1904 beauftragte der Großherzog von Sachsen-Weimar ihn, ein Ateliergebäude der Großherzoglich-Sächsischen Hochschule für bildende Kunst zu errichten. 1907 nahm die „Kunstschule Weimar“ unter Leitung von Henry van de Velde die Arbeit auf.
Weimar, Thüringen
Die Treppe im Hauptgebäude
Das Treppenauge hat eine ovale Form
Als künstlerischer Berater des Großherzogs Wilhelm Ernst von Sachsen – Weimar und Eisenach ließ sich Henry van de Velde 1902 in Weimar nieder. Die Weimarer Jahre, die bis zum Rückzug in die Schweiz 1917 währten, gelten als seine schöpferisch beste Zeit.
Sein Nachfolger wurde 1919 Walter Gropius, der die Schule neu ausrichtete, hin zum „Bauhaus“.
Henry van de Velde, in seinem Atelier. Foto um 1908
Darmstadt, Hessen
Der Großherzog Ernst Ludwig (1868-1937) Reg. (1892-1918)
Der Großherzog Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt und bei Rhein rief 1899 eine Künstlerkolonie ins Leben. Unter dem Leitspruch „Mein Hessenland blühe und in ihm die Kunst“ erwartete er aus einer Verbindung von Kunst und Handwerk eine wirtschaftliche Belebung für sein Land. Das Ziel der Künstler sollte die Erarbeitung neuzeitlicher und zukunftsweisender Bau- und Wohnformen sein. Dafür berief Ernst Ludwig als Mäzen die Jungendstilkünstler Peter Behrens, Paul Brück, Rudolf Bosselt, Hans Christensen, Ludwig Habicht, Patriz Huber und Josef Maria Olbricht nach Darmstadt.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten wurde als gemeinschaftliches Ateliergebäude das Ernst-Ludwig-Haus nach Plänen von Joseph Maria Olbrich gebaut, dem einzigen ausgebildeten Architekten und die zentrale Figur der Künstlergruppe. Peter Behrens betätigte sich ursprünglich, entsprechend seiner Ausbildung, nur als Maler und Grafiker.
Das Gebäude war für Festveranstaltungen, Ausstellungen und zwei Künstlerwohnungen geplant.
Die sechs Meter hohen Kolossalfiguren „Mann und Weib“ oder „Kraft und Schönheit“ stammen von Ludwig Habich und flankieren den Eingang, der in einer Portalnische mit vergoldeten Pflanzenornamenten liegt. Über dem Eingang befindet sich die Inschrift „SEINE WELT ZEIGE DER KÜNSTLER – DIE NIEMALS WAR NOCH JEMALS SEIN WIRD“
Ernst-Ludwig-Haus
Künstler Häuser
Haus Behrens
Haus Olbrich
Modell von der Mathildenhöhe
Die Künstler konnten zu günstigen Konditionen Grundstücke erwerben und darauf ein Wohnhaus errichten, das während der Ausstellung als Musterhaus zu zeigen war. An konkret gebauten Beispielen sollte das Zusammenspiel von Architektur, Innenarchitektur, Kunsthandwerk und Malerei gezeigt werden. Obwohl sich nur Olbrich, Christiansen, Habich und Behrens den Bau eigener Wohnhäuser leisten konnten, waren während der ersten Ausstellung (1901) acht voll eingerichtete Häuser zu besichtigen.
Die Hochzeit des Großherzogs im Jahr 1905 bot Olbrich eine Möglichkeit auf die er fünf Jahre gewartet hatte: einen Turm auf der Kuppe der Mathildenhöhe zu errichten, der die „Akropolis“ vollenden sollte. Der Hochzeitsturm und die benachbarten Ausstellungsgebäude wurden schließlich in die Ausstellung von 1908 integriert. Der rote Backsteinturm, im Volksmund „Fünffingerturm“ genannt, ist von fünf Bogenelementen gekrönt, die mit Keramikfliesen und Kupfer verkleidet sind. Niedrige horizontale Fensterbänder wirken der Vertikalität entgegen.
Links der Hochzeitturm – Mitte Ausstellungsgebäude – Russische Kapelle St. Maria Magdalena, gestiftet vom Großherzogs Schwager Zar Nikolaus II. von Russland
Als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach wurde die gerade laufende Ausstellung auf der Mathildenhöhe abgebrochen. Die Künstlerkolonie bestand während des Krieges weiter, aber es gab keine neuen Berufungen von Künstlern mehr. Spätestens mit der Abdankung des Großherzogs im Jahr 1918 hörte die Künstlerkolonie faktisch auf zu bestehen, formell wurde sie 1929 aufgelöst.
Görlitz, Sachsen
Innenansicht des Kaufhauses
Über eine dreiarmige Treppe erreicht man das nächste Geschoss
Das 1912/13 im Jugendstil erbaute Warenhaus „Kaufhaus zum Strauß“ erwarb 1929 die Rudolph Karstadt AG. Nach mehreren Besitzerwechseln wurde das Warenhaus 2009 geschlossen, Eine Wiedereröffnung ist für das Jahr 2017 geplant.
Die mit ornamentiertem Glas gedeckte Kuppel erhellt den Innenraum und über den brückenartigen Treppenaufgang erreicht man die oberen Stockwerke mit ihren Galerien.
Zwischenzeitlich diente das Gebäude auch als Kulisse zum Film „Grand Budapest Hotel“.
Riga, Lettland
Riga, die Hauptstadt Lettlands, erlebte in der 2. Hälfte des 19. Jhd., beflügelt durch eine starke Industriealisierung, einen ungewöhnlichen Bauboom. Bis in das frühe 20. Jhd. entstanden ca. 800 Gebäude im Jugendstil, Großteils geplant vom Bauingenieur und Architekten Michael Eisenstein (1867-1921).
Endlose Häuserschneisen im Jugendstil ziehen sich durch Riga
Gedenktafel für den Architekt Michael Eisenstein
Da zu Sowjetzeiten Geld und Mittel fehlte um diese Gebäude zu renovieren oder abzureißen, ist dieses einzigartige Jugendstilensemble erhalten geblieben und mit der Altstadt 1997 zum UNESCO-Welterbe erklärt worden.
Das Treppenauge einer gewundenen Treppe in einem Bürgerhaus der Innenstadt von Riga
Der Treppenaustritt im Obergeschoß
Barcelona, Spanien
„Modernisme“ – eine katalanische Ausführung des Jugendstils ist eine kulturelle und gesellschaftliche Erneuerungsbewegung, die sich nicht nur auf die Architektur, sondern auch auf die Kunst, Literatur und Malerei ausdehnte. Antoni Gaudi (1852-1926), ein Katalane mit ausgeprägtem katalanischen Selbstbewusstsein, ist wohl der berühmteste Vertreter des Modernisme. Als Sohn eines Kupferschmiedes lernte er vom Vater den Umgang mit diesem Material, das er auch später in seinen diversen Baustellen einsetzte.
Die Stadt Barcelona ist unter anderem von der ungeheuren Wirkung seiner Werke geprägt und vor allem von der Kathedrale Sagrada Familia.
Die vier Glockentürme sind den heiligen Barnabas, Petrus, Judas Thaddäus und Matthias gewidmet. Aufgenommen 1999
Eine der Hohlspindeltreppen die zur Turmspitze führen, mit bewusst gewählter Rundumbelichtung
Als 1883 Gaudi im Alter von 31 Jahren die Bauleitung der Sagrada Familia übernahm, rechnete er damit, in 10 Jahren die Kirche fertigstellen zu können. Die Kirche war als Sühnekirche geplant und sollte ausschließlich mit Spendenmitteln gebaut werden. Das führte in den Jahren währen des 1. Weltkrieg zu erheblichen Verzögerungen. Gaudi ging persönlich von Haus zu Haus und sammelte Geld.
Zur Zeit wird geplant, die Kirche 2026 zum 100. Todestag Gaudi fertig zu stellen
Die stetigen Verzögerungen im Bauablauf waren der Arbeitsweise Gaudis zuzuschreiben. Er baute weniger nach festgelegtem Plan, sondern erentwickelte während des Bauens. Als Beispiel für Gaudis sich stets wandelnde, immer wieder neuen Erkenntnissen folgende Bauweise ist die Gestaltung, bez. Entwicklung der Türme zu nennen, jene Wahrzeichen der Kirche, wenn nicht der Stadt Barcelona überhaupt. Zwölf Glockentürme sah das Gesamtmodell vor, je vier an den drei Hauptfassaden. Gaudi begann sie in rechteckiger Form, sie dienen als Einrahmung der jeweils drei Portale, die diese Fassaden zieren. Es zeigte sich jedoch, dass die säulenartigen Türme oberhalb der Portale dann recht spitz herausragen würden. Das missfiel Gaudi und so beschloss er, sie rund zu gestalten. Das Resultat ist faszinierend. Zwar verjüngen sich die Türme nach oben hin, doch haben sie nichts mit den historischen gotischen Spitztürmen gemein.
Vorderansicht der Sagrada Familia, wie sie Fancisco de Paula de Villar in seinem Entwurf vorsah
Treppenaufgänge von Antoni Gaudi
Diese Aufnahmen entstanden bei einer Exkursion der Gesellschaft für Treppenforschung 1999
Palau de la Música Catalana, Barcelona, Spanien
Das Foyer der Palau de la Música Catalana, plante der Architekt Lluis Domènech (1850-1923), wie Gaudi ein überzeugter Katalane. In einer Zeitschrift äußerte er „Kein Stil, der aus anderen praktischen oder sozialen Anforderungen oder aus fremden nationalen Charakteristika entstanden war, sollte in Katalonien angewendet werden“.
Das Vestibül und Treppenhaus, Bauzeit: 1905 – 1908
Auf die Frage bei moderne Bauten Materialien wie Stahl und Eisen zum Einsatz kommen, antwortete er »Lasst uns offen jene Formen anwenden, die neuere Erfahrungen und Bedürfnisse uns auferlegen. Wir wollen sie bereichern und ihnen durch die Inspiration der Natur und die Fülle der Ornamente, die uns die Bauten jedes Zeitalter bieten, zum Ausdruck verhelfen«. (Zitiert in Oriol Bobigas, 1973)
Im ausgehenden 19. Jhd. entstand in fast allen Ländern zwischen den Berufsgruppen der Traditionalisten des Historismus und den Erneuerern große Auseinandersetzungen um die neuen Stilrichtung statt.
Brüssel, Belgien
Der belgische Jugendstil Architekt Victor Horta (1861-1947) wurde durch die Neuartigkeit (Art Nouveau) seiner Wohnhäuser international bekannt. Seine Studium absolvierte er Paris und Brüssel und setzte sich schon sehr früh mit den Materialien Eisen und Glas auseinander. Der Formgebung der Blumenornamenten, Wanddekorationen und geschwungene Glasfassaden widmete er sich mit Leidenschaft und war der Meinung, dass seine Entwürfe in höchstem Masse praktisch und nicht Ausdruck einer künstlerischen Affektiertheit waren. Horta entwarf Baupläne für Wohnhäuser, Hotels und Kaufhäuser und vier davon wurden 2000 in die Weltkulturerbe-Liste der UNESCO aufgenommen.
Literatur:
Antoni Gaudi: Rainer Zerbst, Taschenverlag 1987
Architektur des Jugendstils: Frank Russell 1981 Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart
Foto: Le Berrurier (Brüssel)
Lexikon der Weltachitektur, München Prestel-Verlag, 1992
Verfasser: Wolfgang Diehl 2016