Ingenieurbaukunst im 19. Jahrhundert

Eine von funktionalen Bedürfnissen bestimmte Baukunst und die neuen Baumaterialien wie Eisen, Glas und Beton waren die Basis, auf der sich die Architektur des 19. Jhd. entwickelte.
War die Errichtung von Bauwerken, Straßen, Brücken, Leuchttürmen, Wasserleitungen usw. bis ins 18. Jhd. dem handwerklichen Können der Baumeister zugeordnet, so entwickelte sich, ausgelöst durch die Anfänge der industriellen Revolution, ein anderes Berufsbild; der Ingenieur – Fachmann auf technischem Gebiet mit theoretischer Ausbildung.
In England, das als Mutterland der Industrialisierung bezeichnet werden kann, gelang es Darby 1709 mit einem Hochofen, der mit Koks-Kohle beheizt wurde, feines Gusseisen herzustellen. Es folgten Dampfmaschinen für Webereien und Walzwerke für Schmiedeeisen usw.- das Industriezeitalter war damit eingeleitet worden.
Als am 8.Dezember 1835 die erste Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth in Betrieb genommen wurde, so waren die 6 km eine kleine Strecke, aber für die Menschen ein großer Schritt ins neue Zeitalter.
In den folgenden Jahrzehnten wurden Bahnhöfe die neuen Stadttore. Für die Bedachung der Bahnsteige wurde Gusseisen verwendet das mit Glas verkleidet wurde – die Materialien der Zukunft. Beflügelt wurde dieses durch die Weltausstellung die Queen Viktoria am 1. Mai 1851 im Londoner „Crystal Palace“ (Kristallpalast) eröffnete – ein Gebäude mit einer Grundfläche von 540 m x 140 m, bestehen aus Gussstahl und Glas. Die Bauzeit betrug 9 Monate.

Kristallpalast, London, Weltaustellung 1851

Kristallpalast London, Weltaustellung 1851, Joseph Paxtons

 

Eifelturm ,Paris, Weltausstellung 1889

Eiffelturm Paris, Weltausstellung 1889

Zur Pariser Weltausstellung 1889 erbaute der französische Ingenieur Gustave Eiffel den über 300 Meter hohen und für mehr als 40 Jahren höchsten Turm der Welt. Auch heute noch ist dieser Eisenfachwerkturm das Wahrzeichen von Paris und ein Beispiel hervorragender Architektur- und Ingenieurkunst.

Erfahrungen mit dem Material „Eisen“ hatte sich Eiffel schon u. a. mit dem Bau von Eisenbrücken erworben.

 

Schloss Granitz, Rügen

Schloss Granitz Geländerstäbe in Gusseisen

Schloss Granitz Geländerstäbe in Gusseisen

Der Baumeister Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) erhielt auf seiner Englandreise 1826 Anregungen, Treppen in Eisen und Guss zu bauen. Noch im gleichen Jahr baute er am Kap Arkona auf Rügen den ersten modernen Leuchtturm mit den wahrscheinlich ersten Treppen in Gusseisen in Deutschland. Danach nahm das Material Einfluss auf das Baugeschehen. Ende des 19. Jhd. gab es in Deutschland fünf Eisengießereien, die ihre Gießerei- Techniken stetig verbesserten.

Gusseisene Wendeltreppe in Schloss Granitz, Rügen

Gusseiserne Wendeltreppe in Schloss Granitz, Rügen

Auch der Treppenbau war von den neuen Materialien nicht ausgenommen. Die Haupttreppe vom ersten zum zweiten Obergeschoß wurde möglicherweise wegen der großen Spannweite und der Geschlossenheit zum Untergeschoss in Holz ausgeführt. Bei dem Geländer hatte Baumeister Johann Gottfried Steinmeyer aus Berlin es sich nicht nehmen lassen Geländerstäbe in Gusseisen einzusetzen.

Ein Treppenarm zwischen den Podesten

Ein Treppenarm zwischen den Podesten

Die Turmtreppe zur Aussichtsplattform im Schloss Granitz plante Baumeister Karl Friedrich Schinkel
Bauherr: Fürst Wilhelm Malte I. zu Putbus
Material: Gusseisen
Bauzeit: 1845
Steigungen: 154
Laufbreite: 95 cm
Geländerhöhe: 85 cm
Steigungsverhältnis: 18/28 cm

Wohnhaustreppe in St Petersburg, Russland

Treppenaufsicht

Treppenaufsicht

Diese Modetrends verbreiteten sich nicht nur in Europa binnen Windeseile. Zar Nikolaus I. (1796-1855) in Russland ließ in seinem privaten kaiserlichen Landsitz  nahe St. Petersburg 1829 eine gusseiserne Treppe einbauen. Die Stufen bestehen aus 3 cm dicken Platten die an der Vorderkante gerundet sind und auf der Fläche 3,5 cm hinter der Vorderkante eine Riffelung über die gesamte Fläche haben. Die Setzstufen bestehen ebenfalls aus 3 cm dicken gusseisernen Platten mit glatter Oberfläche. Getragen werden die Tritt- und Setzstufen von I-Träger 200 mm die an der Freiseitenkante  und an der Wandseite platziert sind.

Treppenantritt

Treppenantritt

Die Modellierung auf der Treppenfreiseite besteht aus Gips. Die gusseisernen Geländer sind dem gotischen Formen nachempfunden, die Stäbe bestehen aus einem Vierpaß. Am Kragen ist ein Gotisches Maßwerk als Arkardenbogen mit Blattmotiv eingesetzt, der die Verbindung zum Untergurt des Handlaufes herstellt. Der Eichenholzhandlauf hat eine obere Breite von 7 cm und eine Höhe von 5 cm.

Ansicht, Erdgeschoss zum Obergeschoss

Ansicht, Erdgeschoss zum Obergeschoss

Geschoßhöhe EG: 481 cm
Geschoßhöhe OG: 370 cm
Steigungen EG: 26
Steigungen OG: 20
Laufbreite: 105 cm
Steigungsverhältnis: 18,5/26 cm

Prinz-Albrecht-Palais, Berlin

Verdoppelung einer dreiarmigen Treppe (entnommen, die Geschischte der deusche Treppen, Friedrich Mielke)

Verdoppelung einer dreiarmigen Treppe (entnommen, die Geschischte der deusche Treppen, Friedrich Mielke)

Prinz Albrecht von Preußen (1809-1872) wurde als fünfter Sohn des Königs Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise geboren.
1830 erwarb der Prinz ein herrschaftliches aber heruntergekommenes Gebäude in Berlin Friedrichstadt, Wilhelmstrasse 102. Karl Friedrich Schinkel wurde mit den Renovierungs- und Umgestaltungsarbeiten beauftragt. Schinkel, der schon ausreichend Erfahrung mit dem neuen Baustoff Stahl hatte, wählte für die Gestaltung der Treppe eine gängige klassizistische Form – die Verdoppelung dreiarmiger Treppen.
Zufall oder Familienbande? Fast zeitgleich mit Prinz Albrecht ließ sich sein Schwager Zar Nikolas I., der mit Albrechts Schwester Charlotte verheiratete war, auch eine gusseiserne Treppe in seinem Landsitz in der Nähe St. Petersburgs einbauen.

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Isaakskathedrale St. Petersburg, Russland

Der französische Architekt Auguste de Montferrand fertigte 1816 Pläne zum Bau der Isaakskathedrale an. Es dauerte 39 Jahre bis die technisch sehr anspruchsvollen Bauarbeiten an einem der prachtvollsten Bauwerke des 19. Jh beendet werden konnten.

Nach dem Petersdom in Rom und der St. Paul‘s Cathedral in London ist die Kathedrale der drittgrößte sakrale Kuppelbau der Welt.

Innenansicht der Kathedrale

Innenansicht der Kathedrale

Die Innenausstattung, an der 16 Jahre gearbeitet wurde, ist geschmückt mit verschiedenen Marmorarten, Schmucksteinen, über 300 Plastiken und zahlreichen Gemälden.

Die Außentreppe führt zur Kuppel

Die Außentreppe führt zur Kuppel

Die gusseiserne Treppe führt von der Aussichtsplattform zur Kuppel. Die Treppe hat ein Durchmesser von 136 cm, Steigung von 19 cm, auf 360° sind 12 Stufen eingeteilt.

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Aufstieg und Niedergang eines Treppenmateriales
Waren die Formen und filigranen Ausarbeitungen der gusseiseren Tritt- und Setzstufen noch so schön und formvollendet hergestellt worden, so wurden sie vom Großteil der Bevölkerung abgelehnt. Begründungen waren z.B.:
Stahl sei ein „nacktes“ Material.

Stufen mit durchsicht sind heute noch unpopulär

Stufen mit Durchsicht sind heute noch unbeliebt

Frauen mussten, der damaligen Mode entsprechend, beim Treppensteigen die Röcke anheben und die stark durchbrochenen Stufen erlaubten unter Umständen einen Blick auf Unterbekleidung und Beine, was in der Gesellschaft als unschicklich galt.
Hinzu kamen Brandschutzverordnungen in verschiedenen Städten, die besagten, dass für tragende Konstruktionen kein brennbares Material verwendet werden darf, wo bei Trittstufen in Holz erlaubt wurden.

 

Das Drechslerhandwerk

Handwerklich hergestellte Geländerstäbe (Traljen). Aufmaß und Zeichnung Friedrich Mielke

Handwerklich hergestellte Geländerstäbe (Traljen). Aufmaß und Zeichnung Friedrich Mielke

Industriell hergestelte Geländerstäbe, mit runden Schaft zum einbohren in Handlauf und Wange

Industriell hergestelte Geländerstäbe, mit runden Schaft zum einbohren in Handlauf und Wange

Eine weitere Umwälzung im handwerklichen Bereich gab es in den Drechslereien. Bis etwa Mitte des 19. Jhd. fertigten die Drechslermeister Geländerstäbe, auch Traljen genannt, nach dem Schema der antiken Säulen. Die Stäbe hatten unten und oben einen quadratischen Sockel und wurden nach der klassischen Teilungen gedrechselt: Wulst, Kehle, Wulst, Schaft, Bauch. Am Hals des Sockels wurde ein Zapfen eingearbeitet, der in die Löcher der Wange und Handläufe gesteckt und mit einem Holznagel gesichert wurde.
Die neue Form vernachlässigte all diese Grundformen des Säulenaufbaues und bevorzugte schlanke Stäbe, die nicht im Geringsten eine Andeutung der alten Form erkennen ließen.
An den Enden sind die Stäbe rund abgedreht, so dass sie in die Bohrlöcher passten. Der Kreativität im Umsetzen nach neuen Formen war keine Grenze gesetzt.
Das besondere handwerkliche Können der alten Drechslermeister war nicht mehr gefragt und viele wollten und konnten sich mit diesem, in ihren Augen seelenlosen Stil nicht auseinandersetzen – der neue Zeitgeist forderte nicht nur in diesem Berufszweig seine Opfer.

Literatur: Das Bürgerhauser in Potsdam, Friedrich Mielke, Tübingen 1972
                                     Geschichte der deutschen Treppe, Friedrich Mielke 1966

  Kristallpalast: Dipl. Ing. Bernd Nebel
                                     Wikipedia
Verfasser: Wolfgang Diehl 2015